Band 2: Leseprobe 1
10.5 - Das Bildmittel
OBERFLÄCHEN- BESCHAFFENHEIT
Jede OBERFLÄCHE
ist „rein optisch" bestimmbar durch
zwei Merkmale:
1.: sie ist farbig,
2.: sie ist gezeichnet, sie hat Kennzeichen.
Das heißt: ihre Fläche zeigt sich
in einem bestimmten Beschaffenheits- Zustand.
Die Gestalt oder Gestaltung jeder Oberfläche ist visuell oder visuell und haptisch wahrnehmbar
(Sehen - Tasten/Fühlen).
Das Fell eines Pferdes, Straßenpflaster,
ein Stück Baumrinde oder ein Brett, Haut, Jeansstoff,
Backsteinmauerwerk, Tapete, Wandputz,
die Oberfläche einer Brotscheibe oder einer Apfelsine,
eine Seite eines Rechenheftes, ein Küchenhandtuch –
jede Oberfläche sieht anders aus.
Das Aussehen,
die optische Gestalt der Oberfläche lässt sich als
OBERFLÄCHENBESCHAFFENHEIT
mit Worten beschreiben.
Vor der Oberflächenbeschaffenheit steht die Oberfläche.
Man kann in Bildern fünf verschiedene Kategorien von Oberflächen unterscheiden: [... ]
Hier zwei Beispiele:
10.5.2 - Naturgetreu oder naturnah abgebildete Oberflächen, deren Beschaffenheiten ähnlich wie Bildelemente (inhaltlich) benennbar sind.
(Es geht nicht um Materialien bzw. Oberflächen von Materialien454, die zur Herstellung oder zum Aufbau des Bildes benutzt wurden, (und nicht zu seinem Inhalt), - die sind in den Bilddaten genannt.)
Abb. 769: Elefantenhaut, Ausschnitt aus einem Foto
10.5.3 - Vom Bildhersteller/Künstler frei erfundene und gestaltete Oberflächen bzw. Oberflächen-gestaltungen, die nur in Bildern – als Bilder oder mit Bildelementen – auftauchen (können) [...]
Abb. 770 - Bridget Riley, 1966:Fall. Mischfarbe auf Pappe. 141 x 140,5 cm [Kat Tate Gallery - 208]
Band 2: Leseprobe 2
14.1: Ästhetik der Plastik -
Die besondere Wahrnehmung
Über das Sehen Können und die Wahrnehmung wurden Sie im 2. Kapitel schon informiert, und dass Bilder nicht nur visuell, sondern – außer bei elektronischer Übermittlung – auch haptisch wahrgenommen werden können, steht schon im 1. Kapitel, wo der Bildbegriff erläutert und definiert wird. Aber die ganze Bedeutung der Wahrnehmung von drei-dimensionalen Bildern, - das ist schon etwas Besonderes. Das muss als erstes geklärt werden. In vier Abschnitten wird die Ästhetik-Diskussion vom Anfang des Buches noch einmal fortgeführt – (vgl. die Absätze 2.2.5 – 2.2.7 u. 3.2.1):
- 14.1.1 - Die verzögerte visuelle Wahrnehmung
-
14.1.2 - Die psychologische Lage des Betrachters
-
14.1.3 - Über den Tastsinn
-
14.1.4 - Körperlichkeit und Räumlichkeit
14.1.1 - Die verzögerte visuelle Wahrnehmung
Der hier benutzte Oberbegriff Plastik bezeichnete zunächst
die Kunst,
aus festen Stoffen körperhafte Gebilde zu schaffen.
In der konservativeren Fachterminologie werden die Begriffe Bildhauerei, Bildhauerkunst oder auch Bildnerei benutzt, auch das Produkt dieser Arbeit wird Bildwerk genannt, - der Weg zu dem von mir gewählten, allgemein geltenden Begriff Bild ist also weder weit noch unangemessen, er liegt vielmehr nahe, – neu ist er auch nicht (à S. 22 und Abs. 1.2.2). Allerdings hält die obige Plastik-Definition nicht mehr stand, davon im nächsten Kapitelteil mehr.
Plastische Bilder sind in diesem Buch überall zu finden, - als Abbildungen natürlich; aber das nimmt man heute kaum noch als Einschränkung wahr, begegnet einem die Realität in den Massenmedien (→ INDEX), die abgebildete Realität also, fast genau so häufig wie die konkrete Wirklichkeit.
Es gibt aber eine erhebliche Einschränkung bei der Betrachtung (zweidimensionaler) Abbildungen von Plastiken, und die betrifft besonders das Merkmal der Standortgebundenheit, das für alle Bilder gilt (→ S. 32): Im Gegensatz zu den zwei-dimensionalen Bildern kann, muss bei Plastiken sogar der Betrachterstandort gewechselt werden, wenn das ganze Bild (Objekt) in Augenschein genommen werden soll.455 Das ändert zwar nichts daran, dass die Betrachter wohl oder übel die „Ansicht“ zur Kenntnis nehmen müssen, die der Bildhersteller (Bildhauer) in seinem Werk vertritt, aber es ändert die konkrete Betrachtersituation.
Grundsätzlich gehört zur Betrachtung einer Plastik, dass diese sich bewegt oder bewegt wird oder dass der Betrachter sich um die Plastik herum bewegt. Das zweidimensionale Abbild kann von einem Würfel eine, zwei oder höchstens drei seiner sechs Flächen zeigen, es zeigt sie in jeweils nur einer (einzigen) Ansicht, nämlich aus der Perspektive, die der Bildhersteller zur Abbildung des Würfels bezogen hat(te); das ist die physikalische Erklärung für das Merkmal der Standortgebundenheit. (Psychologisch erklärt sich dieses Merkmal aus der Doppelbedeutung des Wortes Standort besser, wenn man an Stelle von Standort den moralisch besetzten Begriff Standpunkt einsetzt; s. u., Fußnote 455). Auf einem solchen Bild nimmt man die jeweils gebotene Ansicht simultan wahr, alles innerhalb von nur einem Augenblick.
Das geht bei Betrachtung von Plastiken nicht. Durch die notwendige Bewegung – des Bildes oder seines Betrachters – vergeht Zeit. Darin liegt die Chance des plastischen Bildes, bei der Rezeption entsteht Spielraum für gedankliche, rationale und emotionale Verarbeitung oder auch Muße und Genuss. Auf jeden Fall erleichtert dieser Zeitablauf bei der Wahrnehmung die Kommunikation zwischen Bild und Betrachter. Allein dadurch wirken Plastiken intensiver als andere Bilder.
14.1.2 - Die psychologische Lage des Betrachters
Abb. 990: Eberhard Binder, 1983: Gulliver in Liliput – Illustration zum Roman „Gullivers Reisen“. Kolorierte Federzeichnung (Ausg. v. Verl. Neues Leben B., 1983, S. 28
Gulliver als Riese↑ und als Winzling↓
Abb. 991: Eberhard Binder, 1983: Gulliver in Brobdingdang (.. bei den Riesen) – Illustration zum Roman „Gullivers Reisen“. Kolorierte Federzeichnung (Ausg. v. Verl. Neues Leben Berlin, 1983, S. 132)
Abb. 992: Chris Booth, 1993: Schiefer und Draht. O. w. A. Grizedale Forest Sculpture Park Cumbria
[KDL-KUheute AContx 117]
„Wie ist die Wahrnehmung bei der vom Tastgefühl bestimmten Ästhetik? Ist der Gegenstand klein, …[wenn ihn] die Hand mit einem Griff umschließt, ...sind innere und äußere Form sogleich identisch. Was wird gespürt, die Oberfläche der Kugel oder die Oberfläche der Hand?
Sicherlich die Ober- fläche der eigenen Hand, deren Tastkörper den Widerstand, den Gegenstand wahrneh- men und diesen umschließend eigent- lich eine Hohlform bilden. Doch übernimmt das Körper- gefühl die Vorstellung einer Kugel und nicht einer Hohlform. Das beruht nicht zuletzt darauf, dass das Gefühl sich von innen her mit dem Körper identifiziert – sich erinnert.“
Heinz Fuchs, 1980
Direktor der Städtischen
Kunsthalle Mannheim
Von ebenso entscheidender Bedeutung für die ästhetische Wirkung einer Plastik ist ihre Dimension456, gemessen in Relation zum (betrachtenden, tastend empfindenden) Menschen einerseits und in Relation zum Tastsinn-Mechanismus andererseits. Der erstgenannte Aspekt der Wirkung ist recht leicht zu erklären: Wir fühlen uns winzig angesichts einer monumentalen Plastik, erst recht, wenn es sich dabei um ein figürliches Bild handelt, zum Beispiel das Denkmal eines Fürsten oder die Darstellung eines Riesen aus der Sagenwelt. Und wir fühlen uns angenehm berührt angesichts einer kleineren figürlichen Darstellung.
Das ist ein altes psychisches Phänomen, älter als Gulliver und Liliput457: Der Mensch überträgt die körperliche Größe seines Nachbarn, seines Gegenspielers oder Kontrahenten458 unbewusst auf die eigene Person und lässt sich – ebenso unbewusst – davon beeinflussen. Mit steigendem Selbstbewusstsein kann man sich zwar gegen diese psychologische Wirkung wappnen bzw. – bei einem Treffen - darauf einstellen, dennoch ist man der Körpersprache des anderen ausgesetzt. Das beginnt bei Einlagen in Schuhen oder hohen Absätzen und einem entsprechenden Gang (z. B. bei Napoleon) und den herablassenden Gesten von groß gewachsenen Menschen und endet bei der größeren Stuhlhöhe für diejenigen, die Macht ausstrahlen wollen. Fehl geleitetes oder schlecht ausgebildetes Selbstbewusstsein kann bei Menschen deutlich abweichender Körpergröße die Motivation zu mehr oder auch zu weniger sozialverträglichen Verhaltensweisen führen. Das bekommt der andere an der Kommunikation Beteiligte, in unserem Falle: der Betrachter, zu spüren. Denn bei der Begegnung mit einer Plastik ist das nicht anders, der Hersteller der Plastik oder der Auftraggeber kalkulieren das sehr genau ein. Auch beim Thema Raum und Umraum (Abs. 20.3.1 – Innen und Außen, S. 1038 ff) wird dieses Phänomen noch einmal von Bedeutung sein.
Dies alles ist nicht etwa nur eine Frage der Psychologie oder gar nur des Selbstbewusstseins, es berührt auch ganz unmittelbar unseren Tastsinn: Weil wir um etwas zu begreifen, nach Möglichkeit immer auch unsere Hände einsetzen, hat sich beizeiten eine gute Zusammenarbeit zwischen Sehen und Fühlen eingestellt: Räumliches Sehvermögen, Geschwindig- keiten und Entfernungen einschätzen oder sichtbare Maße und Proportionen schnell in unserer Vorstellung realisieren können, das sind Erfahrungen, die wir dem Ertasten und Durchdringen des uns umgebenden Raumes verdanken und die wir mit unseren rationalen Mess-Systemen und ihren Maßeinheiten verinnerlicht haben. Aber der menschliche Tastsinn bewirkt („andererseits“) noch mehr.
14.1.3 - Über den Tastsinn
Keine noch so perfekt gezeichnete Kugel kann das Maß ästhetischer Empfindung erreichen, das uns eine Kugel in der Hand vermittelt. Und kein Malergenie oder Meisterfotograf kann uns das Gefühl vermitteln, das durch das Aufnehmen und Umschließen eines goldenen Balles, einer Bowlingkugel oder eines einfachen Handschmeichlers459 entstehen kann. Dabei sind (außer den Augen) das Material und die Oberflächenbeschaffenheit meistens von noch größerer, allerdings subjektiver Bedeutung als die Farbe.
Anders als beim Sehen funktioniert die Haptik460 nur direkt am (und im) Körper, vorzugsweise mit und in den Händen als den am meisten eingesetzten Tastwerkzeugen. Von den Händen, aber auch von allen anderen Stellen der Haut werden die ertasteten Signale über das Rückenmark an das Gehirn weitergeleitet, genauer: an die Großhirnrinde. Dieses Organ ist für die Integration461 aller von unseren Sinnen – und Nerven – übermittelten Reize in unser (subjektives) Bewusstsein oder auch in unsere Reflexe zuständig, wobei [...]
Wegen der engen Beziehung zwischen einer Oberflächenbeschaffenheit im Bild und einem (vorhandenen oder abgebildeten) Material wird in der Fachliteratur auch häufig der Begriff „Materialität" eingesetzt. Dadurch wird jedoch die dritte Kategorie ausgeklammert, was bei Bildanalysen immer wieder zu erheblichen Verwirrungen führt: Materialität heißt Stofflichkeit, das Bestehen aus Materie; - unklar bleibt, ob damit die Ölfarbe dieser Stelle im Bild gemeint ist oder das Aussehen dieser Stelle wie ein Fell oder das dargestellte, abgebildete Fell?
Mit Standortwechsel kann hier nur gemeint sein, dass Plastik und Betrachter sich bewegen können – der Bildhersteller muss es auch, denn die Plastik hat mehrere Ansichten, sogar das Relief. – Der innere Standpunkt, von dem aus der Künstler sein Werk schafft, bleibt (als Merkmal aller Bilder) davon unberührt
Dimension, siehe S. 368 f
Gullivers Reisen, Roman von Jonathan Swift, 1726 (erschienen im: Insel Verlag 1996; 10 €): Scheinbar für Kinder ist dieser erste fantastische Roman der Weltliteratur eines der vergnüglichsten und bösesten Bücher über den Menschen, der sich klein groß aufspielt, groß von erschreckender Plumpheit ist, abstoßend in seiner Verrohung und lächerlich in seiner scheinbar gelehrten Weltentrücktheit. Ein ewig gültiges Nachschlagewerk über die schwache, eitle, böse und doch auch liebenswerte Natur des Menschen. – „Scheinbar für Kinder“, weil die Selbstverständlichkeit der beschriebenen Abenteuer als Phantasien eines Kindes am leichtesten zu ertragen sind. – Mehr dazu auch unter Spiel auf S. 633 und S. 637
Kontrahent: Vertragspartner, Gegner im Streit oder Wettkampf
Handschmeichler. Ein mehr oder minder regelmäßig geformtes, rundes Gebilde, das man mit einer Hand ganz oder annähernd vollständig umschließen kann, ohne dass störende Ecken o. Kanten den Berührungsdruck beeinträchtigen, meistens mit relativ glatter Oberfläche (handlich geformte Kieselsteine, ein kleineres [gebrauchtes, eventuell auch nasses] Stück Handseife, eine Kugel in passender Größe o. a.); das Umfassen solcher Objekte bewirkt spon
tan, oft in subjektiv variierender Kombination mit seiner Oberflächenbeschaffenheit, äußerst angenehme Gefühle
Haptik: Lehre vom Tastsinn; haptisch: die tastende Wahrnehmung betreffend
Integration (lt. aus der Formulierung en-tag-ros = unversehrt, ganz, in diesem Sinne noch enthalten in integer = unbescholten, Integral ≈ ein Ganzes ausmachend) bedeutet die Wiederherstellung eines Ganzen (aus versch.’ Teilen), auch Eingliederung in eine bestehende, größere Einheit; diese Einheit, das Ganze, kann eine Gesellschaft sein (in die ein Außenstehender eingegliedert wird) oder, wie in unserm Fall; die gesamte Befindlichkeit des menschlichen Individuums