Band 1: Leseprobe 1
6.1.3 - Geschichte ist immer auch Kulturgeschichte
Der bei uns geläufige, allgemeine Geschichtsbegriff beinhaltet zu einseitig die politische Entwicklung von Staaten bzw. von den Staatsmännern, wurde weiter vorn kritisiert, und zwar vornehmlich in jeweils nationaler Ausprägung189, insgesamt aber eher auf den europäischen Raum beschränkt. Auch die Geschichte der Entdeckungen und die Kolonialpolitik werden ausschließlich aus der Sicht der „Herrenländer“ dargestellt. – Man hat sich daran gewöhnt, dass alle anderen Bereiche gesellschaftlicher Entwicklungen in jeweils „eigenen Geschichten“ sachangemessen verfolgt werden können. Auch in diesem Buch werden spezielle Bereiche mit ihrem eigenen Werdegang vorgestellt. Das ist ein ökonomisches und seriöses Verfahren, aber die hier angesprochene Führungsposition der politischen Herrschaft in der wichtigen und allgemeinbildenden Wissenschaft der Weltgeschichte sollte auch von Ihnen kritisch überdacht werden; denn diese Einseitigkeit führt zu unangenehmen Konsequenzen auf einem sehr sensiblen Gebiet internationalen Zusammenlebens: auf dem Gebiet des multikulturellen Nebeneinander in unserer pluralistischen Gesellschaft.
So betrachten auch wir – von unserer Schulzeit an – vorgeschichtliche Hochkulturen als exotische, aber verschwundene Erscheinungen, und seit der griechischen Klassik die Kultur (ganz allgemein) als eine europäische, das heißt: als „unsere“ Kultur, und damit als eine weltweit verbreitete Sache. So erklären sich – ganz und gar unpolitisch – der Kolonialismus190
von früher und der Euro-Amerikanismus (s. Schaubild 10, S. 191) der heutigen Zeit. Die neuere Geschichtswissenschaft überwindet diese Sichtweise allmählich.
Weltgeschichte wird nach dem 2. Weltkrieg zunehmend wörtlich genommen. Aber Schule und Öffentlichkeit sind in ihrem Geschichtsbild immer noch der romantischen Kulturtheorie verhaftet.
Abb. 286:
Festmahl mit Heranführung von Opfertieren und Tributen auf der „Mosaikstandarte“ aus den Königsgräbern von Ur,
ca. 2550 v. Chr. Muschelsubstanz, Lapislazuli und roter Sandstein in Bitumen.20,3 x 48,3 x 8 cm.British Museum London [O 1/110]
Kultur aus Ur
- ca. 8000 v. Chr.: Die Landwirtschaft verschafft den Menschen mehr Sicherheit als nur Jagen und Früchte der Natur zu sammeln
-
ca. 3200 v. Chr.: Das Rad wird erfunden, Lasten werden nicht mehr mit Schlitten bewegt, - und die Töpferscheibe sorgt für bessere und schnellere Gefäßproduktion
-
Aus derselben Zeit gibt es Inventarlisten, von Staatsbeamten in Keilschrift angefertigt
-
Ca. 3000 v. Chr.: Mehr als 1000 gefundene Tontafeln zeugen von der ersten Bibliothek im Tempel von Uruk bei Ur
-
Um 2000 v. Chr. entstand das erste Gesetzbuch, das soziales und öffentliches Leben regelt.
Vgl. S. 188 ff
Die romantische Kulturtheorie geht von einer weltweiten Dominanz der Kultur des Abendlandes aus. Diese Vorstellung ist längst als falsch erkannt, dennoch hat sie sich hartnäckig in unseren Kreisen festgesetzt, nicht nur als verbreitete Volksmeinung unter Europäern und Euro-Amerikanern, vielmehr wird auch in Kreisen der Geschichtswissenschaften an der Auffassung festgehalten, wir und unsere Gesellschaft verkörperten die Kultur schlechthin.
Diese fatale191 Fehleinschätzung
hat zwei Ursachen:
- Zum einen entwickelte sich im 18. Jahrhundert, von England und Frankreich ausgehend, auch im deutschsprachigen Raum ein breites Interesse für historische und auch kulturgeschichtliche Literatur, nicht zuletzt wegen der allgemeinen Leselust in dieser Zeit der boomenden Bildungs- und Gesellschaftsromane192. Alle Romanautoren, die bis heute zu den Klassikern der Weltliteratur zählen – allen voran englische, dann französische und russische, schließlich auch [...]
Band 1: Leseprobe 2
6.2.4 Kultur - Definition und Erläuterungen zu einem integrativen Kultur-Begriff
Was Sie bisher in diesem Abschnitt unter dem Themenbegriff Kultur erfahren haben, entspricht besonders der umgangssprachlichen Verwendung dieses Wortes:
Kultur ist ein so häufig und selbstverständlich benutzter Begriff, dass viele Menschen, auch Fachleute, in Schwierigkeiten kommen, wenn sie jemandem seine Bedeutung erklären sollen. Gerade Komposita193 mit Kultur sind sehr beliebt: man spricht von Streitkultur, Esskultur und von Jugendkultur oder Popkultur, von Wohnkultur und von Kulturlandschaften. Wenn diese vielen Bereiche gemeinsam unter den Oberbegriff Kultur gehören sollen, dann muss Kultur entweder ein sehr dehnbarer, fast beliebig einsetzbarer – oder ein sehr abstrakter Begriff sein, der nahezu alle Lebensbereiche erfasst oder einschließt. Das Letztere ist der Fall, und das macht eine Definition sehr schwer.
Der Begriff Kultur
umfasst alles, was die typischen Lebensformen einer Bevölkerung einschließlich der sie prägenden Geistesverfassung betrifft, besonders ihre Werteinstellungen. Kultur ist raumgebunden (Kulturlandschaft …), d.h., es wird immer verschiedene Kulturen geben, obwohl globale Infrastruktur und Kommunikation dafür sorgen, dass „Standards der sog. materiellen Kultur“ sich angleichen (alle Dinge, mit denen sich Menschen umgeben. Werkzeuge/Kleidung/Wohnung/ Schmuck: à Lebensformen: S. 1001 ff). Dazu kommt auch die Zivilisation (à S. 213), die „geistige Kultur“, die diese materielle Kultur dominiert; Kultur bedeutet auch: feine Lebensart, Erziehung und Bildung und daraus entstehende Gesellschaftsstrukturen.
Das Wort stammt vom lateinischen Verb colere ab (= hegen, pflegen, tätig verehren) und führt zu cultura: Bebauung, Ausbildung; Hege und Pflege der geistigen und ethischen Werte einer Gesellschaft. Man unterscheidet Kultursysteme:
- die besonderen Rituale, Sitten und Bräuche eines Volkes
- Bildung und Erziehung
- Wissenschaft und Technik
- Kunst
- Religion
- Sprache und Schrift
- Kleidung
- Siedlungs- und Bauwesen
- Politik und Wirtschaft
Was ist das: Kultur?
Das Wort gehört zum lateinischen Wort cultura, das Bearbeitung oder Anbau bedeutet. Aber schon bei … den alten Römern hatte das Wort einen Doppelsinn: …
Diese und weitere Begriffe sind im folgenden Modell so angeordnet, dass die Kultur in einem größeren Zusammenhang erscheint. Zwar werden Kleidung, Siedlungs-, Bauwesen und noch vieles mehr zur Kultur bzw. zur Zivilisation gerechnet, - es werden aber andere, gleich wichtige Dinge einbezogen: Natur, Gesellschaft, Gemeinwesen, Privates und Individuelles (wozu Sitten, Soziales und Sprache, also Kommunikation zu rechnen sind). Alle diese Begriffe sind in dem Modell vereinigt, das darum als ein „Integratives Kultur-Modell“195 bezeichnet wird.
Jeder dieser Begriffe beruft sich stolz auf eine oder mehrere „eigene“ Wissenschaftsdisziplinen197, aber das Nebeneinander der verschiedenen Wissenschaften verhindert oft – nicht nur in diesem Fall - eine zusammenhängende Sichtweise: Sozial- und Naturwissenschaften sind universal orientiert, sie betrachten ihre Forschungsgegenstände und –erscheinungen auf der ganzen Erde und im noch größeren Raum; die abstrakt historisch forschenden Kulturwissenschaften beziehen sich zeitlich und territorial auf abgegrenzte Kulturräume, schließen aber immerhin die meisten der hier genannten Denkbereiche ein; die Gesellschaftswissenschaften dagegen richten sich nur an das menschliche Individuum oder an einzelne Aspekte menschlichen Lebens (Geschichte, Psychologie, Anthropologie) oder sie untersuchen die Strukturen menschlichen Zusammenlebens (Soziologie).
Unabhängig davon beschäftigen sich weitere Fachwissenschaften mit jedem der schwarz gedruckten Begriffe. Auch aus diesem traditionellen, wissenschaftlichen Nebeneinander resultiert jene bedenklich einseitige Auffassung von Kulturgeschichte, von Geschichte ganz allgemein, wie schon auf Seite 185 angedeutet wurde: Weil „wir“ diese Theorien geschaffen haben, dominiere auch „unsere“ Kultur.
Dagegen ist dieser Ansatzpunkt wesentlich allgemeiner, dafür aber umfassender, nämlich alles integrierend. Das Risiko auftretender Unschärfen ist vertretbar; denn hier wird ein Überblick angeboten, vielleicht auch eine Übersicht über alle Strukturen, in denen auch Kultur und Kunst enthalten sind.
Die im Schaubild genannten Begriffe bezeichnen Lebensbereiche des Menschen oder einer menschlichen Gemeinschaft, die mit dem Oberbegriff Kultur zusammenhängen. Und die Kunst - egal, wie man Kunst versteht - gehört dazu. Niemand kann genau festlegen, inwiefern und wie nachhaltig die Kunst auf einzelne Begriffe bzw. auf deren jeweilige Bereiche Einfluss nimmt oder diese Bereiche auf die Kunst Einfluss nehmen. „Bilder“, wie wir sie definiert haben, werden in jedem dieser Lebensbereiche gemacht. Und natürlich auch von jedem. Darum sollte niemand Bilder als von Menschen und Umwelt losgelöste Besonderheiten ansehen. Bilder sind – mit der Kunst und in der Kultur - Teile unserer Welt, sie verbinden uns und alles in der Welt mit der Welt – sie ergeben das Weltbild.
Wenn wir also wissen wollen, was es mit den verschiedenen Bildern auf sich hat, müssen wir uns auch mit den Menschen beschäftigen, die diese Bilder gemacht haben. Und wir müssen wissen, warum sie diese Bilder gemacht haben und welchem Zweck (diese) Bilder (in welcher Zeit) dien(t)en.
Beim Betrachten und Lesen können Sie die Anordnung der Begriffe überdenken und verändern. Sie können sich „ein Bild machen“ von möglichen Zusammenhängen. Vier Begriffe stehen für vier Eckwerte unseres Daseins und der Welt. Diesen vier Begriffen ist in dem Schaubild eine größere Bedeutung beigemessen worden, als den sechs bzw. sieben Begriffen (rechts und links) dazwischen.
Am 4. August 2003 meldete die dpa (Deutsche Presse Agentur) zunehmende Aggressionen englischer Jugendlicher gegenüber deutschen Studenten und Austauschschülern. Britische Regierungsstellen vermuten als Ursache das völlig überholte Geschichtsbild von den Deutschen in englischen Schulbüchern, wo der 2. Weltkrieg intensiver als die fast 60 Jahre Nachkriegszeit dargestellt und behandelt wird.
Kolonialismus: Auf Eroberung, Erwerb und Ausbau von Besitzungen (anderer Staaten/in Übersee) oder entsprechende Ansprüche ausgerichtete Politik eines Staates oder – in heutigem Verständnis: Systeme der wirtschaftlichen Ausbeutung und der politischen wie kulturellen Unterdrückung sozialgeschichtlich weniger entwickelter Staaten durch andere, die wirtschaftlich und politisch gefestigter und mächtiger sind. Vielleicht trägt dieser Aspekt sogar zum Verständnis für die Haltung von Globalisierungsgegnern bei, obwohl die offensichtlich einer anderen romantischen Kulturtheorie folgen.
fatal (lat.: vom Schicksal bestimmt): unangenehm, peinlich, auch:
verhängnisvoll
Im deutschsprachigen Gebiet Mitteleuropas begann diese (literarische) Entwicklung mit intensiven Sprachforschungen (z. B. Brüder Grimm [Sammlungen Deutscher Märchen und Sagen]), deren natürlicher Untersuchungsgegenstand Kultur sich auf die Geschichtswissenschaft übertrug. All diese Entwicklungen gediehen auf dem erblühenden Nationalbewusstsein der genannten Staaten, wobei Deutschland als ein in über 300 kleine und kleinste Territorialstaaten zersplittertes Gebiet betrachtet werden muss. (Noch in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es mehr als 40 deutsche Staaten.)
Kompositum: zusammengesetztes Wort;
Plural: Komposita
Abkürzung: Z steht für Zeitung oder Zeitschrift (mit Titel-Nennung; im übrigen beziehe ich mich bei Definitionen auf die gängigen Lexika)
Integration: (vervollständigende) Wiederherstellung eines Ganzen (aus zuvor geteilten Einheiten), auch: Einfügung, Eingliederung;
integrieren: (lat.: wieder herstellen, ergänzen) etwas in ein übergeordnetes Ganzes einfügen, einbeziehen oder aufnehmen;
integrierend: notwendiger Weise zu einem Ganzen gehörend;
integrativ: die Integration betreffend:: Kultur ist in das Modell einbezogen
Definitionen zu jedem der hier aufgeführten Begriffe finden Sie im INDEX
Eine Wissenschaftsdisziplin ist ein eigenständiger wissenschaftlicher Forschungsbereich, ähnliche Disziplinen werden an den Universitäten zu Fakultäten zusammengeschlossen